Neuseeland Südinsel |
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Neuseeland – zivilisierte Wildnis oder wilde Zivilisation? Glasklare Seen, verschneite Berge, Grüntöne in allen erdenklichen Variationen. Die Ursprünglichkeit Neuseelands begeistert uns täglich aufs Neue während unserer fünfmonatigen Reise am anderen Ende der Welt. Dem europäischen Winter entflohen genießen wir über 14.000 Kilometern den Sommer am anderen Ende der Welt. Eine dreistündige Fährfahrt über die Cook Strait liegt hinter uns. Der Meeresbereich, der die Nordinsel Neuseelands von der Südinsel trennt, bescherte uns eine ruhige Überfahrt in den zweiten Teil unseres fünfmonatigen Abenteuers. In der Ruhe des Spätnachmittages spulen wir Kilometer für Kilometer durch eine von Weidewirtschaft und Weinanbau dominierten Landschaft. Kurz vor Dunkelheit erreichen wir St. Arnauds. Gleich zwei Seen liegen hier bilderbuchmäßig nebeneinander.
Zahlreiche hellgrüne Mooskissen reihen sich wie eine Perlenkette aneinander, lassen die ewigen Regenfälle hier in Neuseeland erahnen. Aufziehende Kälte kündigt die hereinbrechende Nacht an. Das Teewasser wird vom Nudelwasser abgelöst und mit kalten, roten Nasenspitzen verkriechen wir uns bei 1 Grad Celsius in unser Zelt. An einem der nächsten Morgen brechen wir zeitig auf in Richtung Rainbow-Road, eine 100 km lange Schotterpiste, die oberhalb der Baumgrenze entlang führt. Der höchste Punkt ist der Island Paß mit 1400 Metern. Viele Passagen lassen sich nur im Stehen fahren und die Flußdurchfahrten erweisen sich stellenweise als ausgesprochen schwierig. Loser Kies und große, lockere Steine stellen uns auf eine harte Probe. Eine hohe Geschwindigkeit verhindern die versteckten, knietiefen Schlaglöcher und so eiern wir genußsüchtig über 6 Stunden durch das Gelände. Das ist ja wie Aerobic, auf und nieder, aufstehen und hinsetzen, und immer schön dem Gelände anpassen. Wir stehen mal wieder vor einer Flußdurchquerung. Sieht ganz schön schwierig aus. Ingo fährt vor, kommt ins straucheln. Langsam kippt die schwere BMW in Richtung Wasser, als er mit dem linken Fuß massiv ins Wasser stampft. Mit seinem langen Bein drückt er die 250 Kilo wieder in die Senkrechte. Na super, wenn mir das passiert, habe ich verloren. Bei meinen 1,65 Metern komme ich gerade so mit dem Fußballen auf dem Boden an. Eine kippende Maschine halte ich beim besten Willen nicht. Ich rufe mir sämtliche Tipps und Ratschläge aus den letzten vier Jahren Endurotraining ins Gedächtnis. Nicht anhalten, Gas beibehalten und niemals vor das Vorderrad gucken. Wie eine Achterbahnfahrt wirkt meine Wasserdurchquerung, aber ich komme heile auf der anderen Seite des Flusses an. Super! Das wäre geschafft! Aber vielleicht sollte ich das nächste Mal das Helmvisier schließen. In kleinen Rinnsalen läuft das hoch gespritzte Wasser meine Sonnenbrille hinunter, um sich den Weg über meine Wangen in den Halsausschnitt zu suchen. Ich freue mich regelrecht auf die gut ausgebaute Landstraße in Richtung Christchurch. 100 Kilometer Gelände fahren sind meiner Meinung nach mehr als genug. Warmer, orkanartiger Wind begrüßt uns kurz vor dem schnuckeligen Städchen Akaroa. Die Banks-Peninsula ist das Naherholungsgebiet der Bewohner des nahegelegenen Christchurch. Uns erwarten Kathy, Murray und natürlich Mister Edward der Puter, um gemeinsam ruhige Weihnachtstage zu verbringen. Wie jedes Jahr wird solch ein armer Vogel von Ingo getauft um im Anschluß erbarmungslos zerrupft zu werden. Die Kokopu-Cottage, ein kleines, windschiefes Holzhaus mit knarrendem Fußboden, liegt am Ende einer kurvenreichen Schotterstraße. Durch den hinteren Teil des Hauses gelangt man in den Garten, durch den ein schmales Bächlein plätschert. Die darüber führende Holzbrücke ächzt beim Begehen und nach etwa 100 Metern Trampelpfad durch das kniehohe Gras finden wir eingebettet von Büschen und Bäumen eine in die Steinmauer gehauene Keramik-Badewanne. Ein schönerer Platz zum Baden ist schwer vorstellbar. Der Korb mit dem gehackten Feuerholz steht daneben und wartet darauf, verbrannt zu werden. Das Heiligabendbad gehört mit zu den Zeremonien bei den Kiwis. Es beginnt bereits zu dämmern, als Ingo Wasser in den weißen Trog füllt und mit Zeitungspapier und trockenen Zweigen das Feuer darunter entfacht.
Weihnachten wird in Neuseeland lediglich am 25. Dezember gefeiert und natürlich passen wir uns den Traditionen an. Pünktlich um die Mittagszeit wandert Mister Edward in den vorgeheizten Backofen. Nach drei Stunden liegt er braun und knackig vor uns, umgeben von Kumaras (Süßkartoffeln) und Parsnip, eine Art weiße Karotte. Yam haben wir im Gemüseladen nur der Optik wegen gekauft. Ein kleines, orangenes knollenartiges Gewächs, das am ehesten mit dem Geschmack eines geschmorten Apfels vergleichbar ist. Weihnachten am anderen Ende der Welt. Uns gefällt es! Das Jahr 2004 ist noch jungfräulich, als wir nach etlichen Kilometern weiter südlich Oamaru passieren. Wir verabschieden uns fürs Erste von der Küste und biegen ab in Richtung Middlemarch in die Berge. Petrus hat seinen Haarföhn auf höchste Stufe gestellt und richtet ihn erbarmungslos auf die Erde. Heißer Wind brennt auf unserer Haut und schüttelt uns unnachgiebig zu allen Seiten durch. Ich komme mir vor wie im Wäschetrockner. Wir durchqueren das Maniototo Plain. Das flache Hochland wird von niedrigen Gebirgszügen umfaßt und ist bekannt für seine Backofentemperaturen. Der Ort Middlemarch an der SH 87 besteht aus einer Tankstelle, einem Takeaway-Imbiss und einem Café. Ausgelaugt bringen wir unsere Motorräder vor Letzterem zum Stehen und stopfen uns voll mit Milchshakes und abenteuerlicher Eiscreme. Tip Top Eis klingt zwar nach Badezimmerreiniger mit Frischezauber, dahinter verbirgt sich aber eine riesige Portion gelber und rosafarbene Eismasse. Eingearbeitete Marshmellows in Form unserer Ohrenstöpsel runden den Geschmack ab. Zumindest innerlich gekühlt wagen wir uns erneut in die karge, trockene Felslandschaft. Der Großteil der Strecke verläuft entlang dem Taieri River. Nach etwa 150 km liegt Alexandra vor uns, das von den Einheimischen liebevoll Alex genannt. Eine Uhr in Form eines riesigen weißen Ziffernblattes schmückt die Felskulisse am Rande des kleinen Städtchens. Seine Entstehung im Jahre 1862 ist dem Goldrausch zu verdanken. Heute ist Alex ein wohlhabendes Versorgungsörtchen.
Eine Wand aus aufgewirbeltem Staub und Dreck erschwert die Anfahrt über die letzten 20 km losen Schotter. Der Sturm, der über uns hinweg fegt, zehrt an den Nerven. Wütende Böen schütteln das dichte, mannshohe Schilf an der Bay wie Strohhalme durcheinander. Von einer Stunde auf die andere beendet allerdings der Wind sein wildes Spiel und die Bay überrascht lammfromm mit blauem Himmel und Sonnenschein. Wie gepreßte, dunkelbraune Würste liegen Robben bewegungslos und faul auf den aufgewärmten Ufersteinen. Die Ebbe legt Reste eines ehemaligen Waldes frei. Zwischen festen Schichten von Vulkanschlamm präsentieren sich versteinerte Baumstümpfe und umgekippte Stämme. Vor 180 Millionen Jahren befand sich hier einmal ein überflutetes Waldgebiet. Immer weiter im Uhrzeigersinn entlang der Südküste führt uns unsere Reise in den Nationalpark der Fiordlands. Te Anau bildet einen perfekten Ausgangspunkt zu den Milford Sounds. Morgens Um 8.30 Uhr werden wir von einem silberfarbenen 12-Sitzer-Bus abgeholt. Der quirlige Fahrer stürmt mit entgegengestreckter Hand auf uns zu. "Hi, ich bin Blair. Wie Tony Blair!". Auf der zweieinhalb stündigen Fahrt zu den Milford Sounds klärt Blair uns über die neuseeländische Natur auf, beantwortet Fragen zu Pflanzen und Landschaft. "Dies hier ist ein Rata." Er deutet auf den hohen Busch am Rande der Strasse. Er besitzt die gleiche rote Blütenpracht wie der New Zealands Christmas Tree. So ist es nicht verwunderlich, daß er zur selben Familie gehört, nur als Südlicher Weihnachtsbaum (Southern ChristmasTree) bezeichnet wird. Entlang der 120 km langen Straße nach Milford Sounds liegt stellenweise dichter dschungelartiger Regenwald. Dicke Farnpflanzen und Lianen bevorzugen die idealen Bedingungen und geben ein zufriedenes leuchtendes Grün an die Landschaft ab. Der durchschnittliche Niederschlag liegt im Fiordland bei 8 Metern pro Jahr. Damit ist es eines der feuchtesten Gebiete der Erde. An den zernarbten, steilen Bergwänden fließen dutzende kleine Wasserfälle wie Tränen hinunter.
In den frühen Morgenstunden verlassen wir Te Anau, um querfeldein in die touristische, verrückte Stadt Queenstown zu gelangen. Eine trockene, grau-braune Landschaft begleitet uns während der zu meisternden 240 Kilometer. Mit einem kleinen Umweg, ein etwa 70 Kilometer langer Track durch die Berge, gestalten wir unsere Tagestour etwas abwechslungsreicher. Wer anderes als Murray konnte uns diese Passage als „Top of the world“ empfohlen haben „you must go!“. Ich habe seine Worte noch im Ohr: „The first part has many creeks.....but no problem!“ Die Worte “no problem” habe ich aus seinem Mund schon öfters gehört. Murray scheint ein anderes Problemempfinden zu haben als ich. Das habe ich bereits auf vergangenen Ausflügen mit ihm bestätigt bekommen. Die anfänglichen Kilometer erweisen sich tatsächlich als problemlos, lediglich ein paar seichte Wasserdurchfahrten mit relativ festem Untergrund liegen vor uns. Doch je weiter wir in die Berglandschaft eintauchen, desto reißender wird der Fluß neben uns und desto agressiver werden dessen auslaufende Arme im Bergtal. Dicke egoistische Steine versperren uns den Weg durch das knietiefe Wasser. Umdrehen? Aufgeben? Wo mag „the first part“ enden, von dem Murray gesprochen hat? Ich definiere für mein persönliches Wohlbefinden eine imaginäre Trennung der Berglandschaft in zwei Hälften. „The first part“ endet somit in gut 10 Kilometern. Also durchhalten und weiter! Ich lasse meine BMW selbstbewußt aufheulen und starte den nächsten nassen Abschnitt. Die lockeren Steine auf dem nassen Grund scheinen sich einen Spaß daraus zu machen und rollen unter den grobstolligen Contis von links nach rechts. Ich könnte schwören, gerade ist ein steinernes Ungetüm in der Größe einer Wassermelone direkt vor mein Vorderrad gesprungen. Oooooaaaaah, Lenker, nicht nach links abdriften! Bleibe gefälligst gerade! Aaaaaaaah, wo ist meine Spur??? Mitten im tiefsten Stück des Creeks ruckt es einmal kräftig und der Motor der BMW verstummt. Mit kraftvollem Stampfen landen meine beiden Füße bis zu den Knien in der klaren, reißenden Strömung. Eiskaltes Flußwasser läuft entlang meiner Waden geradewegs in die Stiefel, um meine Socken in einen Waschlappen zu verwandeln. In diesem Moment wünsche ich mir, wenigstens ein paar Zentimeter größer zu sein. Meine linke Fußspitze erreicht einen dieser widerlichen rollenden Steine, alle anderen scheinen sich vor mir zu verstecken. Die Folge meiner verringerten Körpergröße zeigt sich in einem fast unmerklichen, aber stetigen Kippen der BMW zur linken Seite. Millimeter für Millimeter senken sich die roten 220 Kilo in Richtung Wasser. „Iiiiiiingooooo!“ Die Kamera vor der Nase und mit breitem Grinsen hält Ingo mein nasses Mißgeschick für die Nachwelt fest. Durch das gesamte Tal schallend, schwöre ich, ihn in Stücke zu reißen, sollte ich jemals aus dieser Situation wieder herauskommen. Ich koche vor Wut. Mit einem tiefen Atemzug sammel ich alle Kräfte, die ich mir in meiner sportlichen Vergangenheit aneignen konnte. Die vereinten Muskeln rammen meinen linken Fuß in den steinigen Untergrund, um die BMW in die Senkrechte zu drücken. Wahnsinn, ich wußte gar nicht, daß ich so vortreffliche Reserven habe. Die Maschine schleudert über die senkrechte Position hinweg, um sich erneut in die Schräge diesmal auf die gegenüberliegende Seite zu begeben. Die Erdanziehungskraft tut ihr übriges. Neiiiiiiiiiiiiiin!!!
In Queenstown angekommen steuern wir geradewegs die Bungee-Jumping-Basis an, von wo aus wir die „crazy guys“ beobachten, die freiwillig von der 43 Meter hohen Kawarau Suspension Bridge in die Schlucht springen. Todesmutig stellen sie sich der sensationssüchtigen Menge zur Schau, klopfen sich schauspielerisch auf die Brust, um anschließend kopfüber in die Tiefe zu stürzen, wo sie dann am Ende eines dicken Gummiseils herumzappeln. Das begehrteste Urlaubsziel des Landes hat noch einiges mehr zu bieten. Von einer faszinierenden Bergwelt umgeben, angelehnt am stahlblauen Lake Wakatipu, lockt es mit zahllose Freizeitaktivitäten. Vor allem junge Leute suchen hier die Herausforderung. Water Rafting, Jetboating, Canyoning, Drachenfliegen, Mountainbiking. Das Angebot ist unbegrenzt und das Städtchen scheint sich im Laufe der Jahre in einen überdimensional großen Abenteuerspielplatz verwandelt zu haben. Trotz des weitreichenden Angebotes sehnen wir uns nach einigen Tagen wieder nach Natur und Einsamkeit, auf dessen Suche wir uns begeben und kurzerhand finden.
Türkis und glasklar leuchtet der davor liegende Lake Pukaki mit dem Himmel um die Wette. Den Grund für diese Farbenfreude liefern die durch die Sonne reflektierten Mineralien, die mit dem Schmelzwasser aus den Bergen in den See geschwemmt werden. Der Hooker Track beginnt am Fuße des Mount Cook an einem einfachen Campingplatz. Zwei Hängebrücken ermöglichen die Überquerung des reißenden Hooker-Rivers, dessen Wasser nicht gerade einladend aussieht. Kaum zu glauben, daß diese grau-braune Flüssigkeit, die Ähnlichkeit mit altem Milchkaffee hat, in den farbenfrohen Lake Pukaki fließt. Nach fast zwei Stunden erreichen wir den Hooker-Lake, von etlichen weißen Eisschollen getupft. Dem Geräusch nach zu urteilen ist ein permanenter Schmelzvorgang aktiv. Stetiges Krachen und Platschen durchdringt die Stille am Ende des Tracks. Die Sonne versinkt langsam im Schatten der hohen Berge und wir begeben uns auf den Rückweg, um vor der Dunkelheit unser Zelt zu erreichen. Entgegen unserem Zeitplan und unserer Fahrtrichtung planen wir einen Zwischenstopp in Amberley, in der Nähe von Christchurch ein. Das alljährlich stattfindende Horizons Unlimited Treffen wird von Neigel und seiner Frau Kitty veranstaltet, dessen Community weltweit Motorradreisende zusammenhält und bei Fragen oder Problemen hilfreich zur Seite steht. Zwei riesige dunkelrote Rindfleischmassen drehen im monotonen Tempo ihre Runden über dem Grill. Zusammen mit den drei aufgespießten noch etwas blassen Hähnchen versprechen sie ein schmackhaftes Abendessen. Der aufsteigende Geruch von röstendem Fleisch ist kräftig, fast kann man sich dagegen lehnen. Goldgelbe Maiskolben, Käse-Kartoffelgratin, verschiedene Soßen und Salate verzieren den Tisch im Freien neben dem kleinen Haus. Neigel reicht uns zur Begrüssung seine sonnengegärbte Hand. Stolz führt er uns in seine Garage, in der er eine wahre Sammlung alter und neuerer Motorräder hortet. Trialbikes, Racebikes und Enduros. Erwartungsvoll ankommende Reisende stellen ihre Motorräder im Hof ab. BMW, KTM, Honda Transalp, alle Outdoormarken sind vertreten. Von den Reisen verdreckt lassen sie alleine durchs Betrachten die dazugehörigen Erlebnisse erahnen.
25 Reisende finden sich im Laufe des Abends ein und jeder hat seine eigene kleine Story dabei. Da sind John und Annett aus England, seit zwei Jahren "on the road". Mario aus Sachsen auf einer KTM startet seine Reise in Finnland, passiert Russland und Japan um dann nach Australien und Neuseeland überzusetzen. Auf die Frage, wann es wieder Richtung Heimat geht antwortet er: "Ick hab keen zu Hause mehr!" Das Glänzen in seinen Augen verrät die Sehnsucht nach weiteren Abenteuern. Hanka und Erik aus Hamburg fahren seit 11 Monate durch die Welt. Ihr Herz haben die beiden an Südamerika verloren. Tim aus Heidelberg, Chris aus Belgien, Jeremy aus Neuseeland. Jeder hat seine eigene kleine Geschichte. Der Abend wird lang. Dank Neigels selbstgebrauten schwarzen Bieres bleiben die Kehlen geölt. Wie Cola fließt der nicht endende Strom der hopfenreichen Flüssigkeit aus dem Glaskrug. Allmählich klingen Worte verschwommen, Sätze werden unverständlicher. Ein Tag gefüllt mit Weisheiten und Philosophien geht mit einem orange-roten Sonnenuntergang zu Ende. Wir wechseln mal wieder die Inselseite, diesmal von Ost nach West. Über den Arthur´s Pass, dessen Gipfel auf 912 m Höhe liegt, nähern wir uns Westport. Die Blowholes tauchen vor uns auf. Laut Reiseführer sollen in den riesigen Meereshöhlen immense Fontänen produziert werden, ein beeindruckendes Schauspiel. Leider sind bei unserem Besuch weder die Flut noch die Strömung stark genug, so daß die Blowholes lediglich an eine gefüllte Badewanne erinnern. Zumindest die Pancakes sind wetterunabhängig und wir können die verschiedenen Schichten Kalkstein bewundern, die in der Mittagssonne wie übereinander gestapelte Pfannkuchen aussehen.
“Free Billy Tea”. Der Smilie unter dem handgeschriebenen Schild in schwarzen Buchstaben bekräftigt die Einladung und wir folgen dem Pfeil in Richtung Barbecue-Area. Ein Tässchen Tee kommt uns wie gerufen bei unserem Zwischenstopp auf dem Weg zum Franz-Josef-Gletscher. Zehn Minuten Fußmarsch durch das dichte Waldstück und wir laufen geradezu in den glühend heißen Grill hinein. Leckere Hackfleischbällchen versprechen eine schmackhafe Beilage zum Gratistee. Ein dickbäuchiger Typ wendet mit geschickten Handgriffen die Burgereinlagen. “Come on guys, have a cup of tea!” Aus einem Billy Kessel serviert halte ich die heiße, braune Flüssigkeit zwischen meinen Handflächen. Als aktiver Nicht-Teetrinker folgt Ingo der Aufforderung seines knurrenden Magens. Schnell ist die Bestellung an den Grillmeister aufgegeben: Einmal Deer-Burger (Wild) und einmal Fish-Burger. White Bait gilt hier an der Westkueste als Delikatesse und Fisch esse ich für mein Leben gerne. “Mit Tomatensoße oder Mayonaise?” Hmmmm, mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen. Der Fisch ist in einen Fladen aus Eimasse eingebacken. Mit hungriger Vorfreude reiße ich meinen Mund sperrangelweit auf um in den duftenden Burger zu beißen. Aber was ist das? Ich fühle mich beobachtet. Neugierige Blicke haften auf mir. Direkt aus dem Burger starren mich unzählige schwarze Knopfaugen an, die an weißen, langen Wümern hängen. Igitt, ich mag keine Meeresfrüchte! Mit genau diesen Worten strecke ich dem Dickbauch meinen Burger entgegen, in der Erwartung, das Mißgeschick aufzuklären. Ein heiteres Lachen schallt mir entgegen. Ich bekomme dargelegt, dass White Baits keineswegs Meeresfrüchte, sondern kleine Köderfische sind. Zur Verdeutlichung holt er die rote Plastikschüssel mit der Eimasse und den eingerührten Fischen aus dem Kühlschrank um mir diese im Rohzustand zu zeigen. Das hätte er besser nicht tun sollen! Ein kurzes aber intensives Würgen macht sich in meiner Halsgegend bemerkbar, als ich in die weiße, glotzende Wurmmasse blicke. Wortlos reiche ich Ingo den Burger mit der Westküsten-Delikatesse. Ich bevorzuge Kekse zum Mittagessen. Fürs erste gestärkt nähern wir uns dem Gletschergebiet an der Westküste. Der Wetterbericht hält was er verspricht. Nach drei Tagen Dauerregen platschen noch immer dicke Tropfen auf unsere Visiere während die Temperaturen Kilometer für Kilometer in den Keller rutschen. Die kleinen, verschnörkelten Orte rund um den Franz Josef Gletscher und Fox Gletscher lassen nur für kurze Zeit alpine Stimmung aufkommen. Mit steilen Giebeldächern und Holzverkleidungen haben die Stadtplaner alles getan, den neuseeländischen Alpendörfchen schweizer Charakter zu verleihen. Wirklich gelungen ist es ihnen allerdings nicht. Grund dafür liefern die Regenwälder, die schillernd und frisch, leuchtend und satt die Ortschaften umwuchern.
Entgegen meinen Vermutungen strahlt am nächsten Morgen der gelbe Ball vom Himmel herab, als Kilometer für Kilometer die groben Stollenreifen über den Straßenasphalt des Inselinneren rollen. Körperlich untätig ermöglicht diese ungenutzte Zeit tiefe Denkprozesse, ein Eintauchen in die Gehirnwelt. Der Alltag verleitet viel zu oft dazu, den verstaubten Deckel des Verdrängens wie einen Schleier über Problemen auszubreiten. In der Einsamkeit der Bergwelt, gefangen genommen unter dem Motorradhelm, drängen sich Gedanken förmlich in mein Hirn hinein, wollen durchdacht und geklärt werden. Eine Reise räumt auf, entstaubt, lüftet und befreit letztendlich. Und oftmals findet man mehr, als man zu finden glaubt. Hier in Neuseeland gibt es 40 Millionen Schafe, das sind statistisch gesehen 11 Schafe pro Einwohner. Wenn die Schafe Wahlrecht hätten – ein Schaf eine Stimme – dann säßen sie im Parlament, nicht auf der Wiese. Wir interessieren uns für die Arbeit der Schafscherer und melden uns zu einer Schauveranstaltung bei Farmer Peter an.
An der Hinterkeule beginnt er die wollverringernde Prozedur. Vorsichtig, fast zärtlich führt er den eisernen Rasierer Zentimeter für Zentimeter über die Haut. Schafstress in Höhe Peters Knie. Der Kopf ist an der Reihe. Wie beim Skalpieren setzt Peter unmittelbar über den Augen des Schafes an, um in Richtung Ohren und Nacken zu barbieren. Zwischendurch stoppt er immer wieder die Prozedur, um Erklärungen abzugeben und Fragen zu beantworten. Die Position des Schafes zwischen seinen Beinen beschreibt er als maximale Bequemlichkeit für das Tier. Empörtes Blöken hallt durch die muffigen Stallräume. Nahezu nackt hat die Geduld des Schafes seine Grenzen erreicht. Peter zeigt sich erbarmungsvoll. Er lockert den festen Griff und reicht uns seine Hand mit der Aufforderung, die ölige Schicht darauf zu fühlen. Die Haut des Schafes sondert eine fettige Substanz ab, aus der wertvolle Hautcreme gewonnen wird. Die geschorene Wolle wird nun in einer riesigen Presse zu einem kompakten Klumpen gepreßt und für fünf Dollar pro Kilo an Händler verkauft. Eine rostige Kette quer über die Straße gespannt versperrt uns urplötzlich die Weiterfahrt zum Abel Tasman Nationalpark. Strenger Geruch liegt in der Luft. Mitten über die Straße verläuft ein schmutziger brauner Teppich, über den dutzende schwarz-weiße Frieslandkühe mit prallgefüllten Eutern flanieren. Angetrieben von einem kniehohen, quirligen Hund und einem Farmer in dessen strohblonden Haaren sich die Sonne reflektiert, finden die Damen ihren Weg zur gewichtsreduzierenden Melkprozedur. Locker mit einem Bein auf dem Sitz knieend wendet der Blondschopf sein Geländequad geschickt von links nach rechts, hinter der letzten Kuh anschließend. Aufregung unter den Mädels. Kuh Helene sucht sich ihren Weg durch die abgrenzende Kettensperre hindurch. Mit aller Kraft stemmt sie sich dagegen, bis der dünne Draht nachgibt, der am Straßenrand die Kette mit dem Weidezaun verbindet. Die Rechnung hat sie allerdings ohne die perfekt abgerichteten Farmhunde gemacht. Ein kurzer schriller Pfiff des Farmers und Bello Nummer 2 springt in hohem Bogen von dem Quad und stürmt in Windeseile hinter Helene her. Diese läßt sich nicht zweimal bitten. In sekundenschnelle ist sie überredet und reiht sich wieder artig hinter ihre Schwestern ein. Nachdem auch die letzte Kuh die Straße überquert hat, wird der Teppich an einem Haken im hinteren Teil des Quad befestigt. Problemlos wird so die verdreckte Überbrückung ohne große Schwierigkeiten zum heimischen Stall gezogen. Magenknurren macht sich breit. In einem einladenden Café am Straßenrand bestellen wir Seafood Chowder, eine breiige Meeresfrüchtepampe. Außerdem vegetarisches Parcel, gefüllt mit Spinat und Pilzen. Dazu Gemüserelish und Salat, der von Sojasprossen und kleinen gelben Blüten geschmückt ist.
Bis unter das Windschild mit Vorräten eingedeckt fahren wir zum Totaranui-Basis-Platz. Für drei Tage geben wir uns der Einsamkeit des Abel Tasman Parkes und der Schönheit der Golden Bay hin. Hocherfreut entdecke ich in dem hölzernen Verschlag des Toilettenhäuschens eine Dusche. Völlig egal, daß diese eisig kalt ist. Die morgendliche Dusche lasse ich nur ungerne entfallen. Schon seit langem versucht Ingo mich davon zu überzeugen, daß 3-5 Tage ohne duschen allenfalls machbar ist. "Was würdest Du denn in der Wüste machen?" Aber ich bin ein Gegenwartsmensch und die Wüste ist von Neuseeland so weit entfernt wie ein Eisbär vom Äquator. Durch den nördlichsten Zipfel der Südinsel führt der Abel Tasman Coastal Track. Sattes Buschland entlang einer traumhaften Kulisse mit türkisfarbenem Wasser und orangefarbenem Sandstrand der Golden Bay soll uns überraschen. Gleich nach dem Frühstück starten wir am nächsten Morgen die hoffnungsvolle Wanderung. Durch das Nirgendwo des Urwaldgrünes werden wir von Sigrid, einer 67-jährigen Hamburgerin begleitet. Ein echtes schleswig-holsteiner Mädel, das für ein halbes Jahr alleine mit einem hellblauen ersteigerten Kombi der Marke "uralt" durch Neuseeland tourt.
In einigen Buchten ist das Übernachten in begrenzter Zahl möglich. Eine einfache Toilette, ein Wasserhahn, mehr bedarf es nicht. Und das Meer rauscht vor der Zelttür. Nach vier Stunden erreichen wir den Seperationpoint. Mit einer wunderschönen Aussicht werden wir für die hügelige Strapaze belohnt. Ingo und ich schieben uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe, die Kekspackung vergessen zu haben. Mit mauligen Mägen treten wir nach einer kurzen Verschnaufspause die Rücktour an. Während des gesamten Weges Richtung heimatliches Zelt tauschen wir Kochideen aus, überlegen unser heutiges Abendessen und sehnen eine kühle Dusche herbei. Zusammen mit einer Lagerfeuer-Einladung unserer Zeltnachbarn beenden eine Riesenportion Nudeln mit Tomatensoße diesen erlebnisreichen Tag. Ein heftiger Sturm zieht während der kommenden Nacht über unser Camp und hält bis zum nächsten Morgen an. Das Frühstück findet mit Windjacke und übergestülpter Kapuze statt. Das Milchpulver im Teller habe ich gerade mit etwas Wasser zu einer sämigen Masse verarbeitet, als ein gewaltiger Windstoß den gedeckten Tisch durcheinander fegt. Der Teller samt Inhalt kippt um und verwandelt den Holztisch in eine weiße Milchlandschaft. Kurz vor Ende unserer Reise scheint Neuseeland nochmals die Fülle seiner Gegensätze zu unterstreichen. Landschaften wetteifern mit ihrer Makellosigkeit wie Models auf dem Laufsteg. Es scheint hier keine Abstufung zwischen schön und häßlich zu geben. Lediglich in der Intensität der Vollendung variiert die Faszination der Insel. Ein Land in dem Milch und Honig fließt und die Uhren langsamer ticken, zu dem wir heute „good bye“ sagen müssen.
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