Grönland

 

 

 

 

 

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Grönland

„Na, weißt Du denn mittlerweile, wo Eure Reise hingeht?“ Diese Frage habe ich die letzten Wochen nur zu oft gehört. Ich wende mich ab, um der Wand zuzugrinsen. „Noch immer nicht die leiseste Ahnung. Ingo hat alles organisiert…“ antworte ich höflich und frage mich, ob sich meine Gesichtsfarbe rötlich verfärbt hat. Lügen war noch nie meine Stärke und doch habe ich mich für diese Variante entschieden. Wie schnell hätte ich mich sonst verplappern können. Unser 10jähriges steht vor der Tür und Ingo und ich haben uns als besonderes Reiseziel Grönland ausgesucht. Dieser riesige weiße Fleck auf der Landkarte, hoch im Norden, dort wollen wir hin.

Voll bepackt mit unseren beiden Tramperrucksäcken fahren wir am Dienstagnachmittag direkt nach der Arbeit zum Flughafen London-Heathrow, von wo aus wir nach Kopenhagen fliegen. Eine Nacht verbringen wir in der dänischen Hauptstadt, um am nächsten Morgen mit Air Greenland in den Süden Grönlands nach Narsarsuaq zu fliegen.

Schon von weitem können wir die unendlichen Eisfelder sehen und die zerklüftete Küste wirkt wie einem Urlaubskatalog entsprungen. Weiß soweit das Auge reicht, und dies ist lediglich der letzte südliche Zipfel Grönlands. Als der Schnee den schroffen Bergformationen weicht, befinden wir uns auch schon im Landeanflug.

Ich mache mir ernsthaft sorgen um die Landebahn. Wo soll die denn sein? Kein Haus, kein Strauch weit uns breit. Um uns herum nichts als Leere. Wir fliegen eine Schneise und wie von einer unsichtbaren Schnur geführt findet der Pilot seinen Weg durch die Bergwelt.

Wir landen bei schönstem Sonnenschein in Narsarsuaq. Aber kalt ist es hier, so um die 5 Grad schätze ich, als wir über das Rollfeld marschieren. Busshuttle gibt es hier nicht, wozu auch? Das Flughafengebäude gleicht einer Bahnhofswartehalle.

Es gibt weder Passkontrollen noch Gepäckkontrollen und abgesehen von einer Handvoll wartender Menschen ist hier auch nichts los. Einmal täglich landet die große Passagiermaschine aus Kopenhagen.

Der Inlandsverkehr findet mit Hubschraubern und Propellermaschinen statt und auch wir fliegen mit einer DASH 7 weiter nach Nuuk in die Hauptstadt Grönlands.

Die älteste Stadt Grönlands wurde 1728 von dem Dänen Hans Egede gegründet. Godthab, wie sie in der Landessprache genannt wird liegt an der Spitze einer großen Halbinsel direkt bei der Mündung des gigantischen Nuuk Fjords.

13.500 Menschen wohnen in Nuuk, das sind 1/4 der Gesamtbevölkerung Grönlands. Die Inuits fallen durch ihr typisches Äußeres auf. Von kleiner Statur sind sie, mit rauer, kältegegerbter Gesichtshaut. Schwarze, schräg stehende Augen blicken aus den kaffeebraunen, runden Gesichtern, die von pechschwarzem Haar umgeben sind. Die westliche Modeindustrie hat längst ihren Einzug gefunden. Zu kaufen gibt es alles und Jugendliche mit Mobiltelefonen am Ohr zieren auch hier das Straßenbild. Trotz allem herrscht hier große Armut unter den Bewohnern. Westliches Preisniveau erschwert das Leben für Familien, die sich vielfach von Fischfang und Jagd ernähren. Dänisch gilt als die offizielle Landessprache, aber wo man hinhört ertönt Grönländisch, eine Sprache, bei der ich das Gefühl habe, die Zunge des Sprechenden ist im hinteren Teil des Kiefers zwischen den Zähnen eingeklemmt. Grönländisch ist eine polysynthetische Sprache in der ein Wort einem ganzen Satz in einer europäischen Sprache entsprechen kann.

Nuuk Kommunea. Wir stehen vor der großen Holztafel und versuchen angestrengt, die Öffnungszeiten zu entziffern. Wenn wir die Worte richtig verstehen, öffnet das Rathaus heute erst um 12 Uhr. Wie seltsam, haben wir nicht um 11 Uhr den Termin vereinbart? Wir rütteln an der Glastür. Der Typ an der Rezeption schüttelt seinen Kopf und deutet auf seine Armbanduhr. Mit Zeichensprache und komischen Grimassen gestikulieren wir so lange, bis er auf den elektrischen Türöffner drückt. Wir erläutern ihm unseren Termin mit Ulla Lynge um 11 Uhr und bereitwillig schickt er uns den Korridor entlang in den ersten Stock.

Ulla erwartet uns bereits und stellt sich und ihre Kollegin Holga Platou als unsere Trauzeugen vor. Wie schön, dass wir uns noch kurz kennen lernen können. Wir werden in einen geräumigen Konferenzraum geführt, der mit wunderschönen Wandteppichen des grönländischen Künstlers Hans Lynge geschmückt ist. Hier also hat die Geheimnistuerei ein Ende. Wir haben bisher niemanden erzählt, dass wir in Grönland heiraten werden. Noch nicht einmal unsere Mütter wissen es. Wir sind beide keine Fans von Hochzeitsfeiern und Kirchengesängen und noch immer macht sich eine unangenehme Gänsehaut breit bei den Worten „Ehe“ „Trauung“ und „Hochzeit“.

Kim Hvistendahl, der Standesbeamte, betritt den Raum und nach einem kurzen Smalltalk dürfen wir in den ersten Reihen Platz nehmen. Hinter uns Ulla und Holga, die wir wahrscheinlich heute das erste und letzte Mal getroffen haben. Mit freundlichen Augen beobachtet uns Kim über seinen Brillenrand hinweg.

Kurz und schmerzlos seine Worte, die in der Landessprache wie folgt beginnen: „Maani immissinnut neriorsoqatigiinnersi piviusumik neriorsuutitaquarpoq innunersi tamaat asaqatigiinnissamik, ilumoorfigeqatigiinnissamik, ikioqatigiinnissamik illersoqatigiinnissamillu, inuunerup allanngorarfiini qanoq ittunilluunniit.“ Netterweise hält er unsere Zeremonie in englisch ab, die mit einem kurzen und kräftigen Händedruck beendet wird. Im hinteren Teil des Saales steht ein kleiner Umtrunk bereit, alkoholfrei, wie es sich für Amtsinhaber gehört. Das gelb-grüne Sprudelgetränk stellt sich als Limonade „Faxe Kondi“ heraus und Ingo und ich wechseln einen amüsierten Blick. Ob wir uns jetzt besser und glücklicher fühlen würden, fragt Kim uns. „Nein, ganz bestimmt nicht. Genau wie vorher.“ Kichern auf Seiten unserer Trauzeugen.

So kurz und knapp die Trauung war, so spärlich verhalten wir uns auch bei der Übermittlung der Neuigkeit an unsere nächsten Angehörigen. Die Reaktionen fielen dafür umso umfangreicher aus. Während meine Mutter beim nächsten Treffen Ingo eine Backpfeife verpassen will, hat es Ingos Mutter bei der Nachricht „die Socken ausgezogen“. Sandra glaubt uns bis heute nicht und Jan und Birte wollten gleich eingeflogen kommen um mit uns zu feiern.  Ach ja, und der Jubelschrei meiner Schwester Birgit hat dafür gesorgt, dass ich jetzt auf dem linken Ohr schwer höre. Aber das haben wir uns alles selbst zuzuschreiben.

Unseren „Honigmond“ (auch das Wort „Honeymoon“ ist nicht wirklich existent in unserem Wortschatz) verbringen wir auf einem Schiff mit Namen „Sarfaq Ittuk“, das uns von Nuuk in Richtung Norden bringt.

Zwei Tage fahren wir entlang der Westküste und passieren Ortschaften wie Maniitsoq, Kangaamiut, Sisimiut, Kangaatsiaq, Aasiaat um am Ende in Illulissat anzukommen. Tief in die Fjorde steuert der Kapitän sein Schiff und wir fahren an majestätischen Eisbergen vorbei durch kristallklares Wasser.

Es gibt verschiedene Sorten von Eis, lassen wir uns aufklären. Altes Meereis, das im arktischen Ozean um Nordostgrönland entsteht und neues Meereis, das aus gefrierendem Meerwasser besteht.

Bei Eisbergen handelt es sich um Stücke von Inlandeis, das vom Gezeitenstrom abgebrochen wurde. Grönland ist die größte Insel der Welt und würde im Vergleich von Schottland bis in die Sahara reichen.

Nein, sind die niiiiiieeeeedlich! Verträumt beobachte ich die drei Husky Babys die mit tollpatschigen Verrenkungen und Verknotungen ein dickes Wollknäuel bilden.

 

Noch bedeckt weicher brauner und beiger Flaum die speckigen Körper, doch binnen weniger Monate werden sich die kleinen Racker in wolfsähnliche Hunde verwandeln. Die typischen Schlittenhunde sind hier in Ilulissat ähnlich häufig zu finden wie am Nordseedeich die Schafe. Neben den 4000 Einwohnern wohnen in Ilulissat mindestens 2500 Huskys.

Aus allen Richtungen ertönen deren Heulrufe und gerade in der Dämmerung gibt es dem Ort eine phantastische Atmosphäre. Wir erhaschen einen letzten Blick auf die massiven Eisformationen bevor sich die orangefarbene Sonne für heute vom Horizont verabschiedet.

Zurück im Hotel beobachten wir von der großen Fensterfront unseres Zimmers die Fischerboote auf offener See, die sich mit starken Scheinwerfern ihren Weg durch das dunkle Eis in Richtung heimatlichen Hafen bahnen. In Grönland steht die Zeit still und wir schlendern in das Restaurant, um mit einem Glas Wein auf den gelungenen Tag anzustoßen. Genüsslich lesen wir die Speisekarte und freuen uns auf unser bevorstehendes Abendessen. Der aufmerksame Kellner serviert uns eine reichliche Fischplatte als Vorspeise, die mit geräuchertem Lachs, Walfisch und anderen undefinierbaren Meeresfängen angereichert ist. Ingo liegt mir seit Tagen in den Ohren er wolle in Grönland unbedingt Walfisch essen. Hier endlich findet er seine kulinarische Erfüllung. Ich allerdings hätte die Befriedigung der Begierde in andere Worte gepackt, ähnlich wie „tranige Ungenießbarkeit“. Walfisch gehört definitiv nicht zu meinem Lieblingsfisch. Wie ein alter Socken klebt mir das geräucherte Fleisch zwischen den Zähnen und es gehört eine gehörige Portion Überwindung dazu, meine Gaumenmuskeln dazu zu überreden, den ehemaligen Meeresbewohner in meinen Magen zu befördern. Auf meine Frage, wie Ingo das Säugetier munden würde, verzieht er sein Gesicht und antwortet: „Ja, doch, passt schon, aber ich würde ihn mir innerhalb der nächsten zwei Monate nicht noch mal bestellen.“ Na, wenn das nicht aussagekräftig genug ist.

Ein richtig glückliches Händchen hatte Ingo bisher noch nicht was die Expedition der grönländischen Nahrungsmittel angeht. Beim morgendlichen Frühstück konnte er der schwarz-braunen glibberigen Masse nicht widerstehen, die ihn aus dem Glas neben dem Honig anglotzte. Das kleine Schild, gedruckt in drei Sprachen löste das Geheimnis. „Lakritzmarmelade“. Zwischen süß und herb, weihnachtliche Erinnerungen auslösend ließ allerdings nicht nur die Optik zu Wünschen übrig.

Aber ist das Leben nicht zum Leben gedacht? Wir jedenfalls befinden uns mittendrin in der Unwirklichkeit Grönlands. Die Insel, die eine Größe von 2,2 Millionen Quadratkilometern umfasst, ist zu mehr als 80 % von kontinentalem Eis bedeckt.

Eisplatten können eine maximale Dicke von 3.200 Metern erreichen und neuer Schneefall fügt jedes Jahr rund 600 Kubikkilometer hinzu. Früher hielt sich das in Waage mit etwa der gleichen Menge an Eis, die jedes Jahr im Sommer schmilzt. Heutzutage scheint das Gleichgewicht allerdings etwas gestört zu sein. Eisberge variieren enorm in Größe und Form. Von kleinen Anhäufungen reichen sie zu kolossalen Giganten, die sich bis zu 100 Meter über dem Ozean auftürmen.

Wenn sich im Norden Grönlands Eisberge von den Fjords trennen und hinaus ins offene Meer driften, treiben die meisten in Richtung Norden zur Davis Strait, die zwischen Grönland und Kanada liegt. Die Ozeanströmung trägt die Eisberge dann weiter Richtung Norden.

Hier werden sie von der Baffin und Labrador Strömung abgefangen und in den wärmeren Süden umgeleitet. Manche der riesigen Eisberge treiben sogar bis nach New York City bevor sie endgültig schmelzen. Schon seit jeher stellen Eisberge von Grönland eine Schwierigkeit für Schiffe dar, die den Nord Atlantik passieren. Lediglich 1/7 der Ungetüme ist über der Wasseroberfläche sichtbar und macht somit deren Ausmaße unberechenbar. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es ein grönländischer Eisberg, der das Sinken der Titanic im Jahre 1912 verursachte.

Mit diesem historischen Hintergrundwissen wählen wir für unsere Heimreise eine kleine Propellermaschine, die uns nach Kangerlussuaq bringt von wo aus wir den vierstündigen Rückflug über den Atlantik antreten. Wir wollen definitiv wiederkommen. Warum eigentlich nicht in 10 Jahren zu unserem 20-Jährigen…