16.12.2012 Chile, Weg zum Villarrica: Mittagspause

Während das Frühstück hier in Chile als die unwichtigste Mahlzeit angesehen wird, besteht das Mittagessen aus einem warmen Hauptgericht, oft mit einer Vorspeise und etwas Süssem und Kaffee hinterher. Gegessen wird zwischen 13 und 15 Uhr.

Wir lassen die Küste und den Nationalpark Laguna Torca hinter uns um zum Fusse des 2.847 Meter hohen Vulkan Villarica in Richtung der Anden zu fahren. Die Landesgrenze zu Patagonien liegt vor uns.

Hier sind sie also zu finden, die berüchtigten Winde Chiles, die eine Fahrt auf den Strassen des Südens zu echten Herausforderungen gestalten. Da braucht es teilweise reichlich Muskelkraft, um sich gegen die Naturgewalten zu behaupten. Noch sind wir verschont geblieben, doch die Geschichten, die wir zu Ohren bekommen, sind abenteuerlich und respekteinflössend. Ich möchte darauf vorbereitet sein und entscheide mich für eine kulinarische Stärkung. Ich lenke mein Motorrad an den rechten Strassenrand und komme vor einem unscheinbaren Haus zum Stehen. Grosse Buchstaben auf einem sonnenvergilbten Schild versprechen nur Gutes: „Cocina de Tia Veronica“. Wie wäre es mit einem Mittagessen? Ingo ist wie immer eher verhalten wenn es um das Thema Mittagessen geht. Hier gehen unsere Meinungen seit Jahren auseinander. Ich liebe es, mittags etwas Warmes und Deftiges zu mir zu nehmen und lieber das Abendessen spärlicher ausfallen zu lassen, wohingegen er eine Vorliebe für die umgekehrte Reihenfolge hat. Heute darf ich den Ton angeben und wir nehmen auf den zwei wackeligen Stühlen Platz, die an einem Holztisch direkt neben dem Eingang stehen. Hier kann das Essen nicht schlecht sein. Einige Lkws parken vor dem Haus und das darf man ja als geheime Empfehlung werten.

Es ist ein heisser Tag und der Staub der Strassen scheint sich in unseren Kehlen festgesetzt zu haben. Wasser hilft hier zur Durstlöschung nicht mehr, deswegen bestellen wir eine Literflasche Coca Cola. Ich weigere mich zu berechnen, wie viele Zuckerwürfel wohl in dem Liter enthalten sind und konzentriere mich auf die Empfehlung der Küchenchefin. Ihre wachen braunen Augen blicken uns freundlich an, als sie uns erklärt, dass es nur ein einziges Gericht gäbe und das sei Truthahn mit Salat. Hmmmm, also für mich klingt das ausserordentlich lecker und auch Ingo entscheidet sich für das Gericht. Während wir auf unser Essen warten nutzen wir die Zeit, um ausführlich die Karte zu studieren. Wir diskutieren rege die Streckenwahl für die Weiterfahrt und ich freue mich jetzt wirklich auf einen leckeren Salat. Ich kann ihn bereits vor meinem geistigen Auge sehen: schön bunt angerichtet mit leckerem Dressing und dünnen, zarten Putenstreifen obenauf!

Warmer Wind bläst uns um die Nase und 10 Minuten später kommt Tia Veronica mit zwei vollen Tellern in der Hand zu unserem Tisch. Die eine Hälfte ist wie erwartet mit verschiedenen Gemüsen angerichtet. Tomaten mit Zwiebeln, grüne Bohnen und Mais. Hier in Chile sind diese Gemüsesalate gängig. Man bekommt die lediglich in Salzwasser abgekochten Gemüse lauwarm oder kalt serviert. Die zweite Hälfte des Tellers wird von einer riesigen Truthahnkeule in Beschlag genommen, die offensichtlich ebenfalls kochend gegart wurde, da die wabbelige Haut blass und schlaff an der Keule hängt. Es ist ein riesiges Stück Fleisch und wenn ich ganz ehrlich bin, sieht dieser Teil des Truthahns nicht so richtig appetitlich aus. Ich kenne Truthahn bisher nur von Weihnachten. Nach altem Rezept wird er über Stunden im Ofen gegart bis er knusprig und wohlriechend zum Abendessen an Heiligabend serviert wird. Nun ja, dies erscheint mir doch eine recht eigenwillige Zubereitungsart, zumal ich am liebsten nur die Brust des Federviehs verspeise. Aber andere Länder, andere Sitten!

Ich widme mich der Sezierung des Vogelbeins und beginne in chirurgischer Feinarbeit, die Haut vom Fleisch zu trenne. Das zarte Muskelfleisch das ich nun vorfinde, ist fettfrei und in grosszügiger Menge vorhanden. Ganz zu meinem Erstaunen ist es sogar äusserst wohlschmeckend! Ich frage mich, ob auch bei einem Vogel die Oberschenkelmuskulatur nach humanmedizinischer Benennung erfolgt und versuche herauszuschmecken, ob ich gerade meinen Mund mit einem Stück Musculus quadriceps femoris oder biceps femoris gefüllt habe. Eigentlich ist es mir vollkommen egal, aber ich muss auf dieser Reise zumindest halbherzig versuchen, nicht alles medizinische Wissen der vergangenen 4 Jahre zu vergessen. Eine Alternative wäre die Überlegung gewesen, wo sich an dieser Geflügelkeule  der Akupunkturpunkt Gallenblase 32 (Chinesisch: „Zhong Du“) befindet. Soweit ich mich richtig erinnere, bewegt er das Leber Qi und löst Stagnationen. Bei diesem Patienten hier bin ich allerdings nicht sehr zuversichtlich, dass eine Akupunkturbehandlung erfolgversprechend wäre.

 

Wetter:

Sonne, 28 Grad

 

 

 

Weitere Erlebnisse