31. Dezember 2012 Agentinien, Bajo Caracoles – Estancia La Angustura, unsere Rettung

 

Estancia, nennt man ein Landgut in Südamerika, auf dem eine stationäre, extensive Weidewirtschaft vor allem mit Mastrindern, Schafen und Milchkühen betrieben wird.

In Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay sowie Brasiliens kam ab der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts der Begriff Estancia auf, um damit Anwesen zu bezeichnen, auf denen eine ortsgebundene Viehzucht betrieben wurde, die das simple Einfangen und Schlachten der von den Spaniern aus Europa eingeführten und in der Pampa verwilderten Rinder ablöste.

 

Perito Moreno präsentiert sich als Geisterstadt, die während unserer Ankunft am frühen Nachmittag wie ausgestorben scheint. Die Touristeninformation genehmigt sich eine 3-stündige Mittagspause und ausser Staub und streunenden Hunden gähnen uns einsame Strassen mit leeren Hotels an. Kurz entschlossen nehmen wir weitere 60 km auf uns und fahren Richtung Westen an den Lago Buenos Aires nach LosAntiguos.

 

Eine gute Enscheidung! Eine frische Seeluftbrise begrüsst uns. Hier findet das Leben statt, das in Perito Moreno fehlt. Junge Leute flanieren entlang der Hauptstrasse und Strassencafes laden auf einen Cafe con Leche ein. Die zwei Tage, die wir hier verbringen, sind entspannt. Wir nutzen die Zeit, um unsere Webseite auf Vordermann zu bringen und lange Spaziergänge entlang des Sees und des angrenzenden Flusses zu unternehmen. Für Silvester besorgen wir in der örtlichen Metzgerei ein schönes Stück Rindfleisch, das zusammen mit Mohrrüben und Zwiebeln über 2 Stunden zu einem leckeren Gulaschgericht vor sich hinköchelt. Zusammen mit einer Flasche argentinischen Rotwein wollen wir um Mitternacht auf den Jahreswechsel anstossen. Glücklicherweise haben wir in der Cabana eine zuverlässige Internetverbindung. So stellen wir um 23 Uhr mit Erschrecken fest, dass wir einen Tag zu früh dran sind: Die Datumsanzeige zeigt den 30.12.2012. Und ich habe mich schon gewundert, warum mir eine Freundin aus Zürich um halb 12 in der Nacht über Skype mitteilt, sie sei jetzt müde und würde zu Bett gehen….

 

Am nächsten Tag machen wir uns auf unser letztes langes Schotterstück, eine 400 Kilometer lange Strecke durch die Steppe Patagoniens, wie immer in Richtung Süden. Mental auf schwieriges Fahren eingestellt starten wir zeitig am Morgen unsere Weiterfahrt. Wir markieren den kleinen Ort Bajo Caracoles in der Karte als heutiges Etappenziel. Laut Reiseführer soll es ein einfaches Hotel und eine Tankstelle geben. Die Silvesterfeier wird dann eben dieses Jahr etwas weniger feudal ausfallen. Gegen frühen Nachmittag erreichen wir den Ort Bajo Caracoles, bei dem die Bezeichnung Geisterstadt noch ein Kompliment wäre. Staubig und schmutzig, mit einer Handvoll Häusern, von denen die Hälfte leer und verfallen erscheint. Die beschriebene Tankstelle besteht aus zwei Zapfsäulen in der Mitte des Ortes, bei der weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Als wir im angrenzenden Hotel nachfragen, erfahren wir, dass der Tankwart gerade Mittagspause macht und erst in einer halben Stunde wieder anwesend wäre. Bei diesen langen Streckenabschnitten sind wir auf jede Benzinversorgung angewiesen. Deswegen gesellen wir uns zu zwei kanadischen Motorradfahrern, die in weiser Voraussicht ihre Brötchen und Salami auspacken und kurzerhand ein Picknick neben den Zapfsäulen veranstalten.

 

Wir begnügen uns seit ein paar Tagen mit zerkleinerten Brötchen übergossen mit heisser Milch zum Frühstück, da es im letzten Ort „Los Antiguos““ einen Haferflocken-Engpass gab. Ohne unser Hauptnahrungsmittel sehen wir doch ganz schön alt aus. Ich freue mich auf eine Hotelübernachtung mit gutem Frühstück. Kurzentschlossen marschiere ich in das Hotel, das gleichzeitig den örtlichen Kiosk und das einzige Restaurant darstellt und frage dem Besitzer hinter dem Tresen nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Er trägt ein verschmiertes Unterhemd über seinem dicken Bauch und der  3-Tages-Bart in dem vernarbten Gesicht ist ungepflegt. Er wirkt mürrisch, als er auf mich zukommt und je mehr er sich mir nähert, desto stärker nehme ich seinen Schweissgeruch war. Mit tiefer Stimme macht er mir klar, dass heute Silvester sei und er deswegen keine Zimmer vermieten würde. Heute Abend kämen sämtliche Freunde und Verwandte und es würde laut und voll hier werden. So richtig kann ich mir das nicht vorstellen in dieser Abgeschiedenheit und als ich deswegen nochmals nachfrage und mich vergewissere, dass wir uns auch richtig verstehen, greift er mich am linken Arm und zieht mich zu dem Regal mit den Spirituosenflaschen. Er steht nun ganz dicht bei mir und grunzt mir ins Ohr: „Sei Dir sicher, diese Nacht wollt Ihr nicht hier verbringen!“ Das ist sogar für mich deutlich genug und ich flitze vor die Türe um Ingo zur Eile anzutreiben. Ich möchte nichts lieber als so schnell wie möglich diesen Ort verlassen.

 

Wie schon so oft auf dieser Reise gesellt sich in diesem Moment Vätterchen Zufall hinzu. Eine Familie aus Heidelberg hat meine Konversation mit dem dickbäuchigen Wirt verfolgt und eröffnet mir die Alternative, zur 200 Kilometer entfernten Estancia La Angustura mitzukommen. Es gibt dort sowohl Campingmöglichkeiten als auch Zimmer und auch ein vorbereitetes Silvesteressen soll man optional erhalten können. Mir schmerzt schon mein Hinterteil und meine Schultern fühlen sich starr und verkrampft an vom vielen Schotterfahren. Eigentlich hatten wir die Estancia als Etappenziel des nächsten Tages eingeplant, doch eine wirkliche Alternative haben wir sowieso nicht.

Was soll ich sagen? Die Entscheidung erweist sich als goldrichtig. In netter Gesellschaft schlemmern wir uns durch die Köstlichkeiten des Abends: In Olivenöl eingelegte Auberginen, kleine Biscuits mit Thunfischpaste, Apfelsalat mit Walnüssen, geraspelte Möhren, gegrillte Lammrippchen, eine Art hausgemachte Bratwurst vom Grill sowie verschiedene süsse Nachspeisen in Form von Kirschtorte, Vanillecreme und süssen Teilchen. Es hätte uns durchaus schlechter ergehen können!

 

 

 

Wetter:

Sonne, 18 Grad

 

 

 

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