13. April 2013 Chile, San Pedro de Atacama – Andenüberquerung

In grossen Höhen verändert sich der Luftdruck bei gleichbleibender Sauerstoffkonzentration. Bereits in einer Höhe von 5.500 Metern ist der Luftdruck um die Hälfte reduziert. Mit dem geringen Luftdruck sinkt ebenfalls der Sauerstoffpartialdruck und damit auch der Anteil an Sauerstoff, der über die Atmung aufgenommen werden kann. Dies führt zu einer geringeren Sauerstoffsättigung im Blut. Dadurch wird eine Anpassungskette im menschlichen Organismus aktiviert.

Samstagmorgen, 6. April: Ich habe Geburtstag! Ingo serviert mir auf einem unserer Campingblechteller einen Kinder-Bueno-Schokoriegel mit einer Kerze daneben, die er am Vortag von einer Marktfrau geschenkt bekommen hat. Ein Ständchen bekomme ich zwar nicht von ihm, aber es ist besser so. Seine musikalischen Fähigkeiten benötigen grundsätzlich umfangreiche "Entwicklungshilfe“.

Für den heutigen Tag liegen lediglich 200 km Fahrtstrecke vor uns, um von Salta nach Tilcara zu kommen. Dort wollen wir am Einstieg zum „Paso de Jama“ übernachten, um am nächsten Morgen die Überquerung der Anden zu starten. Ganz zu meinem Entzücken lese ich im Reiseführer, dass der Name des Ortes Tilcara ein Quetschua-Wort ist und übersetzt „Sternschnuppe“ bedeutet. Wenn das kein gutes Omen ist! Zur Feier des Tages wählen wir eine edle Unterkunft, mit Zimmerwänden aus wunderschönem Naturstein und blütenweisser Bettwäsche auf den Betten. Sie übersteigt zu 30 % unser Budget, doch das ist für heute egal! Auf der Suche nach einem Restaurant für den Abend stossen wir auf ein einfaches Lokal, dessen Wände mit Plastikfolie ausgekleidet sind. Doch die Karte tönt vielversprechend. Wir sitzen auf Plastikstühlen an Plastiktischen und bekommen auf Plastiktellern unser Abendessen serviert. Ingo hat sich für eine Art Eintopf entschieden mit Lammfleisch, Kartoffeln und Möhren. Ich wähle Wokgemüse auf Spagetti. Es schmeckt vorzüglich!

Nun ist also mein 41. Lebensjahr angebrochen. Ehrlich gesagt freue ich mich darauf. Es hat etwas positives, keine 20 mehr zu sein. Aber vielleicht ist das auch bloss die Entschuldigung, sich nicht andauernd und uneingeschränkt grossartig finden zu müssen. Das erleichtert das Leben. Oder nicht? Das Design bestimmt das Bewusstsein! Das Design des eigenen Auftritts und das gilt es zu akzeptieren. Mit dieser Gewissheit sende ich einen Wunsch in den Sternenhimmel, der über Tilcara, unserer heutigen Sternschnuppe, liegt.

Vor uns liegt die Überquerung der Andenkette. Von Tilcara in Argentinien hinüber nach San Pedro de Atacama in Chile sind es knapp 400 km. Die Strasse ist tief in den Stein gesprengt und schraubt sich in unendlichen Serpentinen bergauf. Die Bergwelt um uns herum ist voll geheimer, erdfarbener Winkel, die sich aus den mit Morgennebel gefüllten Tälern erheben. Einer der schönsten Streckenabschnitte der gesamten Strecke ist die Überquerung der „Salinas Grandes“ auf einem Damm. Hier können wir die Technik des Salzabbaus besichtigen und das eine oder andere salzige Andenken mitnehmen.

Weiter geht es durch die Wüste und hinauf auf den Andenpass, den Paso de Jama. Auf dem Weg dorthin überschreiten wir mehrfach den Wendekreis des Steinbocks. Hier steht am 21. Dezember die Sonne absolut senkrecht am Himmel. Auf dem Paso de Jama angekommen überqueren wir nach unbürokratischen Zollformalitäten die Grenze zu Chile und fahren auf einer faszinierenden Strecke über den chilenischen Teil des Antiplano. Zunächst vorbei am vielfarbig schimmernden „Salar de Aguas Calientes“, dann an den „Moais de Tara“, bis zu 30 Meter hohe, völlig freistehende, vom Wind verwitterte Felsfinger. Schier endlos erstreckt sich die Hochebene und die zerklüfteten Felswände. Der Horizont wird nur von gelegentlichen Vulkankegeln unterbrochen. Immer wieder fesseln grün schimmernde Lagunen und von weissen Salzufern gesäumte, überfrorene Feuchtgebiete unseren Blick. Libellen hängen über dem Wasser wie unbewegliche Juwelen in der Luft, bis sie im Dunst verschwinden.

Während ich noch an der Oberfläche meiner Träume herumdrifte, erreichen wir 80 km hinter der Grenze den höchsten Punkt der Strecke auf 4.825 m über dem Meeresspiegel. Mich durchläuft ein Strom der Freude. Unsichtbar, doch so vibrierend wie Elektrizität. Es ist ein eindrückliches Erlebnis. Nicht nur wegen der Aussicht, die sich uns bietet. Es ist vielmehr erstaunlich, wie unsere  Körper in dieser Höhe reagieren. Der Puls geht zügig, gut und gerne 10-15 Schläger schneller als normal. Das Herz springt und stolpert, schlägt wild um sich. Und im Kopf, ja im Kopf herrscht seit mehreren Stunden ein Vakuum vor. Ein Gefühl von Watte, leichter Schwindel zusammen mit dumpfem Kopfdrücken. Ich habe den Eindruck, als würde dort oben jemand mit einem grossen Kochlöffel langsam, im Zeitlupentempo im Kreis herumrühren.

Irgendwann nach dem höchsten Punkt führt die Strasse an einem der imposantesten Vulkane vorbei, dem fast 6.000 Metern hohen „Licancabur“. Von dort beginnt die Abfahrt. Es ist still hier oben aber nicht lautlos. Es ist die übliche Stille einer Bergwelt, erfüllt vom Rasseln der Sträucher und dem Seufzen der umgebenden Hügel. Im Hintergrund bläst der rastlose, scharfe Wind, als wäre es ein Echo der Unruhe hoch oben in der Luft. Die von der Sonne geweckten Düfte der Landschaft erfüllen die Luft. Lautlos wie ein Flugzeug im Landeanflug schweben wir hinunter ins Tal. Meter für Meter lassen wir die Höhe hinter uns. Das Druckgefühl löst sich langsam und gibt Kopf und Ohren frei. Nach einer halben Stunde schliesslich landen wir wie verzaubert in der Flussoase San Pedro de Atacama, die auf 2.436 Metern  am Fusse der chilenischen Anden liegt. Die sinkende Sonne wirft lange Schatten vor unsere Motorräder. Sie sind bis hierhin trotz der extremen Höhe gut gelaufen und mein Einzylinder konnte beim Erklimmen der Serpentinen sogar einen kleinen Kräftevorsprung gegenüber der schweren F800 von Ingo verzeichnen. Doch nun haben sie sich genau wie wir eine Pause verdient und ich klopfe meinem kleinen Moped anerkennend auf den dicken weissen Tank. Gut gemacht Cariño!

In Susques, dem einzigen Dorf auf der gesamten Strecke, treffen wir auf eine neuseeländische Motorradreisegruppe.

 

Wetter:

Sonne 12 Grad

 

 

          

 

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