3. Juni 2013 Kolumbien, Popayán – Schutzreflex

Als Schutzreflex bezeichnet man umgangssprachlich autonome Reflexreaktionen des menschlichen Körpers, welche diesen vor diversen Ereignissen schützen sollen. Beispiele hierfür sind der Lidschlussreflex, Würgereflex, Schluckreflex und Hustenreflex. Es wird behauptet, dass es ausserdem auch einen Motorrad-Flucht-Reflex geben soll.

Mein Gott, hat der Mann ein Lächeln! Ich kann meinen Blick von den blütenweissen Zähnen meines Gegenübers nur schwer abwenden. Der attraktive Zöllner übergibt uns die Importpapiere für die Motorräder, die wir für die Einreise nach Kolumbien benötigen. Mit den Worten „Bienvenido a Colombia“ schüttelt er uns freudig die Hände und verbreitet dabei Wohlbefinden wie ein Kessel Eintopf.  Die Nationalfahne in den Farben gelb, blau und rot flattert auf dem Dach des  Zollgebäudes im Wind und es ist für uns etwas ganz besonderes, in unserem letztem Land Südamerikas angelangt zu sein. Das tropische Gebiet von unvorstellbarer Abwechslung und Anziehungskraft hat die Welt über Jahrhunderte hinweg begeistert. Die unterschiedliche Topographie, der ausgezeichnete Kaffee und die geheimnisvolle und abenteuerliche Geschichte Kolumbiens sind die Symbole, die das multikulturelle Land zu einer untrennbaren Einheit zusammenführt.  Hierher zu kommen ist wie die Entdeckung einer neuen Welt.

Eine andere Betrachtungsweise liefert die Internetseite des Auswärtigen Amtes, das mit seinen Reisehinweisen und –warnungen ein mulmiges Gefühl in der Magengrube hinterlässt. Es rät insbesondere von Reisen in die Grenzregionen zu Venezuela, Peru, Ecuador  und Panama ab sowie in alle vom Binnenkonflikt und den Drogenschmuggel betroffenen Regionen. Dazu gehört ein Grossteil des Landes, wie sich bei unseren Recherchen herausstellt. Mir wird beim Lesen ein wenig eng ums Herz, als sei meine Motorradjacke geschrumpft. Allerdings wird die Panamerikana von diesen Warnungen ausgeschlossen. Es heisst wörtlich: „Die Hauptrouten zwischen den wichtigsten Städten des Landes können in der Regel befahren werden.“

Am späten Vormittag starten wir unsere Etappe von dem kolumbianischen Grenzort Ipiales in Richtung Pasto, um von dort aus nach Popayán zu gelangen. Die weissen Wolken über uns geben den blauen Himmel frei und die grandiose Aussicht auf die grüne Schönheit der Hügel und die dichten, tropischen Bäume ist überwältigend. Die Panamerikana teilt den vor uns liegenden Regenwald in zwei Hälften. In einem stetigen Auf und Ab führen uns die Serpentinien durch den grünen Dschungel und erfordern grosse Konzentration. Schlechte Strassenverhältnisse und zahlreiche Strassenarbeiten verlangsamen unser Vorwärtskommen.

Wieder leuchtet uns ein rotes Schild entgegen mit der Aufschrift „Pare – Stopp“, das uns wegen Fahrbahnerneuerungen zum Anhalten zwingt. Eine der vielen weiblichen Schönheiten Kolumbiens hält selbstbewusst das Schild in die Höhe, während sie über ein Funkgerät mit ihrem Kollegen am anderen Ende der Baustelle kommuniziert. Hinter uns haben sich eine Reihe Pkws, Lkws und Busse eingereiht. Es rollt viel Verkehr über die wichtigste Hauptstrasse Kolumbiens. Im Seitenspiegel verfolge ich, wie schräg hinter Ingo ein Moped zum Stehen kommt. Ich kann zwei in schwarz gekleidete Männer darauf erkennen, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder der kolumbianischen Schönheit schenke. Plötzlich ertönt ein Schuss neben meinem Ohr und das Moped mit den beiden Männern startet mit quietschenden Reifen in Richtung gesperrter Baustelle. Ganz kurz blitzt eine silberne Pistole in den Händen des Sozius auf, der die Waffe blitzschnell unter seinem Anorak verschwinden lässt. Sekunden später höre ich ein seichtes „Wumms“. Der Wagen hinter uns rollt aufgrund des Gefälles langsam mit vor Schreck gelöster Bremse auf uns zu und stösst Ingos BMW nach vorne. Nun beginnt er mit samt Maschine, in meine Richtung zu kippen. Mann und Motorrad kommen immer näher und drücken mich in Richtung Strasse. Das grosse Gewicht lastet auf meiner rechten Seite, so dass mir nichts anderes übrig bleibt, als dem Druck nachzugeben. Fast gleichzeitig liegen wir beide mit unseren Enduros auf dem Asphalt. Schnell eilen ein paar Fahrer herbei und helfen uns, die Maschinen wieder aufzurichten. Der halbe Hinterreifen von Ingos Maschine steckte noch unter dem Wagen. Noch können wir uns die Situation nicht erklären. „Schau mal das Mädel an, sie ist total verstört!“ macht Ingo mich auf die signalgebende Schönheit vom Anfang aufmerksam. Tatsächlich zittert sie wie ein getretener Hund und hat Schwierigkeiten, das Funkgerät in ihrer Hand festzuhalten. Ich eile zu ihr hin, greife ihren Arm und frage sie, ob sie Hilfe benötigen würde. Ihre Stimme überschlägt sich und sie kann die Worte kaum formulieren, die ich erst nach dem zweiten Mal nachfragen verstehe: „Er hat auf den Mann geschossen….. er hat einfach geschossen!“  Ich kann die Anspannung in der Frau spüren, die wie ein gespannter Draht unter meiner Hand summt.  Als ich mich umdrehe, steht Ingo mit leicht fragendem Gesichtsausdruck hinter mir. „Der Mopedfahrer hat auf eine Person in dem Wagen hinter uns geschossen!“ Mir kommen meine eigenen Worte vor, als hätte ich sie in Trance gesprochen. Für einen Augenblick halte ich meine Augen geschlossen, um der momentan unbefriedigenden Welt zu entfliehen. Ich spüre, wie sich eine innerliche Anspannung ausbreitet und versuche, mich zu konzentrieren. Fight oder Flight – Kampf oder Flucht? Der aus der amerikanischen Stressforschung stammende Begriff beschreibt die rasche körperliche und seelische Anpassung von Lebewesen in Gefahrensituationen. Während der „Fight oder Flight“ Reaktion veranlasst das Gehirn die schlagartige Freisetzung von Adrenalin, das Herzschlag, Muskeltonus und Atmungsfrequenz erhöht. Diese bereitgestellte Kraftreserve liefert die Energie für überlebenssicherndes Verhalten.

Ingos neurobiologische Abläufe funktionieren schneller als meine. „Los, auf’s Motorrad und weg hier!“ Er hat bereits seinen Helm aufgesetzt und ist dabei, hektisch in die Handschuhe zu schlupfen. Wir lassen die Motoren aufheulen und steuern in die mittlerweile vom Gegenverkehr freigegebene Baustelle. Der Fahrer des Wagens mit der angeschossenen Person wendet, um medizinische Hilfe im nächsten Ort zu bekommen. Wir können eine in sich zusammengesunkene Person auf dem Beifahrersitz erkennen, nicht jedoch das Ausmass seiner Verletzung. Mit aufgedrehten Gashähnen wollen wir dieser furchtbaren Situation entfliehen, doch beim Losfahren stelle ich fest, dass ich lediglich in den 1. Gang schalten kann. Die darüber liegenden Gänge enden im Leerlauf. Durch den Sturz hat sich der Schalthebel verbogen und klemmt nun unter dem Motor der X-Country fest. Das kann doch nicht wahr sein! Mit 25 km/h schleichen wir also mit maximal aufgedrehtem Motor über die Panamerikana und ich wünsche mir sehnlichst, die Geschwindigkeit mindestens zu vervierfachen. Nach 10 Kilometern wagen wir, in einem kleinen Dorf anzuhalten und Ingo verändert mit ein paar gekonnten Umdrehungen die Befestigung meines verbogenen Schalthebels, so dass wir wenigstens den Ort Popayán erreichen können, der noch eine halbe Stunde von uns entfernt liegt.

In Nebel gehüllt spielt sich das eben Erlebte in monotonem Ablauf wieder und wieder vor meinem inneren Auge ab. Ganz kurz habe ich den Eindruck, meine Gefühle nicht in den Griff zu bekommen und schwanke zwischen unleugbarer Bestürzung und genauso unleugbarer Ernüchterung. Wir wurden soeben mit den Grenzen des Machbaren konfrontiert und unsere physische Existenz ist irrealer denn je zuvor.

Seit Jahrzehnten schwelt in Kolumbien ein bewaffneter Konflikt zwischen linksgerichteten Guerillatruppen, rechtsgerichteten Paramilitärs und der regulären kolumbianischen Armee. Die kolumbianische Regierung hatte 2005 ein Gesetz für „Gerechtigkeit und Frieden“ (Justicia y Paz) erlassen, das den Grundstein für ein friedliches Zusammenleben bilden sollte. Wir persönlich halten das Attentat für einen gezielten Anschlag auf eine bewusst ausgewählte Person. Ob es jedoch politisch orientiert oder als Teil eines Drogenkrieges ausgeführt wurde, wagen wir nicht zu beurteilen. Sowohl die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) als auch die Nationale Befreiungsarmee (ELN) begingen in der Vergangenheit mehrfach schwere Verstösse gegen die Zivilbevölkerung und das internationale Völkerrecht.

Dichte, dunkle Wolken haben sich mittlerweile über unseren Köpfen zusammen gebraut und wie auf Knopfdruck öffnet sich nun der Himmel und ergiesst nicht enden wollende Wassermassen auf uns herab. Die regengepeitschten Bäume neigen sich im Nebel, der vom feuchten Boden aufsteigt und uns und unsere BMWs umhüllt. Blitze zucken am Himmel gefolgt von tiefem, bedrohlichem Donnergrollen. Eingemummt wie die Michelin-Männchen erreichen wir mit triefender Regenkleidung Popayán, noch bevor der Tag im Begriff ist, in die Finsternis abzusteigen. Wir wählen ein gutes Hotel für die Nacht, dessen vergitterte Fenster und bewaffnetes Sicherheitspersonal auf uns einladender als je zuvor wirken.  Unser Schutzreflex hat uns heute richtig handeln lassen, noch bevor gespeichertes Wissen mit Gefühlen verknüpft und zu einer rationalen Entscheidung verarbeitet werden konnte. Man könnte es auch Intuition nennen – und dies ist ein Geschenk der Evolution!

 

Sanctuario Las Lajas

 

Wetter:

20 Grad, Sonne und Regen

 

 

 

 

          

 

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