27. Juli 2013 Nicaragua, León – Abfahrt

Adrenalin ist ein Hormon, das in Stresssituationen ins Blut ausgeschüttet wird.  Als Stresshormon vermittelt Adrenalin eine Steigerung der Herzfrequenz, einen Anstieg des Blutdrucks und eine Erweiterung der Bronchiolen. Es reguliert die Durchblutung und sorgt für eine Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit. Letzteres ist eine äusserst positive Einrichtung der Natur, da ansonsten in gewissen Situationen die Gefahr gegeben wäre, die Hosen zu schnell zu voll zu haben.

„Vulkan-Boarding, einmalig und aufregend!“  heisst es in den Prospekten für Ausflüge von diversen Reiseveranstaltern in der Stadt León. Eigentlich wollen wir lediglich den Vulkan Cerro Negro besteigen, gemütlich und entspannt, um eine interessante Einsicht in das Innere des noch aktiven Kraters zu bekommen.

Für die Besteigung ist ein Führer obligatorisch und somit stehen wir bei dem Tourenveranstalter TierraTours in einem der Kolonialbauten Leóns, um uns von David, dem Geschäftsführer, beraten zu lassen.  Mit vokabularischer Höchstleistung  macht er uns die Vulkan-Boarding-Tour schmackhaft und wahrscheinlich liegt es schlichtweg daran, dass uns die Hitze ins Hirn gestiegen ist, dass wir die Tour bei ihm tatsächlich buchen.

Mit einem Holzbrett unter dem Arm stehen wir am darauffolgenden Morgen auf 728 Metern, dem höchsten Punkt auf dem Cerro Negro, Nicaraguas jüngstem und aktivstem Feuerspucker. Jetzt in diesem Moment halte ich mich einfach nur für verrückt. Beim Blick hinunter auf die 41 Grad steile Aussenwand ist meine Entscheidung nur noch mit Sonnenstich erklärbar. Da hinunter rutschen? Ins schwarze Nichts, ohne das Ende der Bahn sehen zu können? Mit Höhenangst? Abstruse Idee!

Leider sind die Alternativen, sie sich mir gerade bieten, nicht besonders gut: Hinter mir gähnt der Kraterschlund und über Felsbrocken auf der anderen Seite wieder hinunterzusteigen, ist nach 60-minütiger mühsamer Kletterpartie auch keine wirkliche Option. Doch eines ist für mich sicher: Hier werde ich auf keinen Fall hinunter rutschen.  Eher schneit es in der Hölle!

Zum Vulkanboarding wird allen Beteiligten ein farbiger Schutzanzug ausgeteilt, der an die Gefangenenkleidung in Guantanamo erinnert.  Ausserdem ein Sperrholzbrett mit einer Lage Metall am Boden, das erschreckend simpel aussieht. Keine coole Beschichtung, kein abgefahrenes Design. Im High-Tech-Zeitalter hätte ich etwas mehr Schnickschnack erwartet. Vielleicht wäre das ein Argument, nicht hinunter rutschen zu müssen? Schnickschnack lenkt ab, beruhigt. Doch mit dieser Fehlkonstruktion? Woran festhalten, wie lenken und womit bremse? Entschlossen wende ich mich an den Tourenguide, der bereits dabei ist, wichtige Ratschläge zu verteilen: „Mund zu, sonst ist er voller Vulkangeröll!“

Kompromisslos mache ich ihm klar, dass er mir einen Hubschrauber-Rettungsflug organisieren müsse, da ich aus dieser Höhe niemals mit einem Holzbrett den nahezu senkrechten Abhang hinunter rauschen werde. Die Miene meines Gegenübers verschiebt sich zu einem enormen Lächeln, aus dem das Unverständnis mit weissen Zähnen hervorblitzt: „Aber dann war ja der ganze Aufstieg umsonst!“ Es kostet mich einige Mühe, meinen Standpunkt meiner gestrigen kopflosen Entscheidung darzustellen. Doch es ist wohl nicht fair, sich mit jemanden über das zu streiten, wovon man denkt, dass er es denkt. Der Guide nimmt meine Kaskade an Argumenten schulterzuckend entgegen. "Super, dann nehme ich Dein Brett und fahre hinunter. Du kannst dort auf dem Trampelpfad im Zick Zack hinunterlaufen!“ Wie beruhigend logisch Männer doch sind und - von einigen drastischen Ausnahmen abgesehen – angenehm direkt!

Für Ingo ist es keine Frage, nicht hinabzufahren. Ein letztes Zurechtrücken der Schutzbrille und schon rauscht er als farbenfrohe Gestalt umgeben von einer immensen Staubwolke den steilen Abhang hinab. Sobald sein Brett über den Hang schleift, knattert und krächzt es, Steinchen und Staub fliegen ihm um die Ohren und ins Gesicht. Es wird steiler, schneller, spannender. Der graublaue Himmel steht im krassen Kontrast zur gelbgrünen Landschaft, auf der der tiefschwarze Vulkan sitzt. Zwischendrin zeigen die festgewordenen Magmawellen, wohin sich die Lava beim letzten Ausbruch in die karge Prärie ergossen hat.

Ingo ist beinahe unten angekommen, als ich mich auf meinen steilen und rutschigen Abstieg vorbereite. Wie im Tiefschnee rutsche ich mit grossen Schritten durch das Geröll, das sich in Form von kleinsten Steinchen in meinen Schuhen und Socken sammelt. Für einen kurzen Augenblick ertappe ich mich bei dem Gedanken, wie es wohl gewesen wäre, auf dem Brett hinunter zu rutschen. Doch so schnell ich kann verwerfe ich ihn wieder.

Heil unten angekommen, blicke ich die steile Wand hinauf und erschrecke noch einmal nachträglich. Unglaublich hoch sieht der Cerro Negro von hier unten aus. Die richtigen Abenteurer, also die, die mutig den Abhang mit den Brettern gemeistert haben, sitzen am Fusse des Vulkans in vereinter Runde - Ingo mitten unter ihnen. Vulkansteinchen und feiner Staub hat sich in deren Haaren, Ohren und jeder freien Stelle der Gesichter festgesetzt. Zufrieden sehen sie aus – allesamt - und ich stelle mir für einen kurzen Moment die Frage, ob vielleicht kopflose Entscheidungen schlichtweg die besten sind.

Am Ziel

Gekonnte Abfahrt einer unbekannten Teilnehmerin

Französischer Teilnehmer mit stark angekraztem Ego

Weiterer Teilnehmer mit unglücklichem Abgang vor Zeugen

Hätte er doch bloss nicht mit 10 Jahren Snowboarderfahrung geprahlt

Der Vulkan ist aktiv, die Erde von daher dampfend heiss

Auf dem Krater des Vulkans

 

Wetter:

29 Grad, Sonne und Regen

 

 

Weitere Erlebnisse