24. Januar 2014 Australien, Tasmanien, Mount Field Nationalpark – Umgefallen

Eine Bänderzerrung ist meist die Folge einer gewaltsamen Bewegung des Gelenks. Beim Fussknöchel ist das seitliche Abknicken auf die Aussenseite die häufigste Ursache einer solchen Verletzung. Selten passiert ein Umknicken zur Innenseite.

Camping in Tarraleah

Wir hangeln uns von einem Zeltplatz zum nächsten, von Nationalpark zu Nationalpark, von einer grandiosen Wanderung zum nächsten eindrucksvollen Aussichtspunkt. Es macht Spass, in Tasmanien zu weilen. Die Natur ist rein, ursprünglich und einsam. Ganz besonders bemerkenswert ist die Vielfalt des 16.265 Hektar grossen Gebiets des Mount Field Nationalparks. Der Park besteht aus zwei Hauptabschnitten: Den drei Stufen des Russels Wasserfalls, eingebettet in üppige Farnwälder und riesige Bäume, die den Himmel kitzeln wollen und aus dem Gebiet um und über dem Lake Dobson, das man über eine gewundene Schotterpiste erreichen kann. Letzteres wählen wir für unsere heutige Tageswanderung. 5-6 Stunden soll sie dauern, uns über die Steilhänge des Hochlandplateaus führen, mit grandioser Aussicht auf Seen und Täler. Früh am Morgen stellen wir das Motorrad auf dem Parkplatz des Lake Dobson ab. Eisig ist es hier oben. Der Wind pfeift uns um die Ohren und schnell ziehen wir alles über, was wir dabei haben. Die Wälder aus hohen, palmenähnlichen Pandani an den Ufern des Sees strahlen zusammen mit den Sumpf-Eukalyptushainen einen gewissen Charme aus. Sobald wir im Windschatten der Bäume verschwunden sind, stoppt der kalte Wind.

Es ist wunderschön hier oben. Keine Menschenseele ist um diese Uhrzeit unterwegs. Ein Stück höher, oberhalb eines kleinen Skigebiets können wir auf die Steilhänge des Tarn Shelf blicken. Auf die glitzernden Tümpel am Rande des Berges und auf die ausgedehnte Seen im darunter liegenden Tal. Die Berghänge am Tarn Shelf leuchten Grün und Gelb vom Laub des einheimischen Fargus, dem einzigen laubwechselnden Baums Australien. Wir sind zügig unterwegs und bereits nach drei Stunden haben wir 2/3 der Wegstrecke hinter uns gebracht. An einem der kleinen glitzernden Seen genehmigen wir uns eine Pause und setzen uns auf die warmen, von der Sonne gewärmten Holzplanken am Ufer.  Es gibt hart gekochte Eier und Vollkorn-Cracker.  Hier bietet sich eine traumhafte Aussicht auf das Tal um uns herum.

Gestärkt nehmen wir den Endspurt unserer Tageswanderung in Angriff. Es liegen noch gute 3 Kilometer vor uns und zahlreiche zu bezwingende Felsen und Hänge. Zuerst bleiben wir auf dieser Höhe, kraxeln über Steinvorsprünge und balancieren durch modriges Buschland, bevor wir wieder mit dem Abstieg zum Dobson Lake beginnen. Und dann passiert es. Ein grosser Stein gerät ins Wackeln während Ingo unsicher mit einem Bein auf dessen Kante steht. Er verliert das Gleichgewicht und fällt nahezu geräuschlos vom Felsen, wo er ein Stockwerkt tiefer zum Liegen kommt. Gerade als er sich aufgerappelt und mühsam auf einem Felsvorsprung gesetzt hat, sprudeln bereits die Worte aus seinem Mund: „Mein linker Fuss ist nicht in Ordnung!“  Von Unterarm und Handgelenk tropft Blut, doch man kann schnell erkennen, dass es sich nur um aufgeschürfte Haut handelt. Das grössere Übel scheint tatsächlich sein Fuss zu sein. Gestützt auf meine Schultern versucht er mit schmerzverzerrtem Gesicht, auf beiden Beinen zu stehen zu kommen. Es scheint zu funktionieren, doch an zügiges Wandern ist nun nicht mehr zu denken. Mit Hilfe eines Stockes findet Ingo bei seinen ersten Gehversuchen Unterstützung, um erst einmal humpelnd und unter Schmerzen aus diesem unzugänglichen Gebiet herauszukommen. Wir brauchen für einen Kilometer etwa 90 Minuten und ich beginne bangend nachzurechnen, wann die Dunkelheit einsetzen wird. Sonnenuntergang gegen 20.30 Uhr, Kälte und Dunkelheit gegen 21 Uhr. Und wir haben noch genau einen Müsliriegel als Notvorrat. Tolle Aussichten!

Die Wanderkarte zeigt eine Skihütte genau am Ende dieses Wegabschnittes, dessen Zufahrt zum Parkplatz des Lake Dobson führt. Während Ingo mit Krückstock im Schneckentempo vorwärts schleicht, marschiere ich zügiger voran. So zügig, wie es ein Abstieg mit zwei Rucksäcken erlaubt. Mit dem einen auf dem Rücken, den anderen vor dem Bauch kann ich meine eigenen Füsse nur sehen, wenn ich mich weit nach vorne beuge. So weit, dass ich beinahe das Gleichgewicht verliere. Also lasse ich es lieber und akzeptiere die Mutation zum erblindeten Packesel. Doch irgendwie schaffen wir es, unten anzukommen und es scheint, als hätte unser Schutzengel einen guten Tag. An der Skihütte steht ein Geländewagen, der gerade von Vater und Tochter beladen wird, um die Heimreise anzutreten. Steven und Isabel haben ein paar Tage hier in den Bergen verbracht und sie sind, wie sie uns erzählen, in wenigen Minuten bereit zur Abfahrt. Zu allem Glück ist Steven Arzt und sein geübter Blick tippt auf eine Bänderzerrung an Ingos linkem Aussenknöchel. Er empfiehlt ihm, den Fuss zu bandagieren und ruhig zu stellen. Vater und Tochter nehmen uns mit zum Parkplatz des Lake Dobson, wo unser Motorrad einsam zurückgeblieben auf uns wartet. Wir sind heilfroh, dass wir für die restliche Wegstrecke diesen Mitnahmeservice in Anspruch nehmen durften.

Was nun folgt, ist nicht wirklich lustig. Und ich erzähle diesen Teil der Geschichte nur, weil alles ein gutes Ende genommen hat…. Die hochbeinige BMW von Ingo ist ja nun wirklich kein Spielzeug. Massiv, schwer und eben hoch. Und genau diese Höhe macht ihm nun zu schaffen. Da sein linker Fuss lädiert ist, versucht er von der ungewohnten rechten Seite aufzusteigen, mit Hilfe des Krückstocks in der einen Hand und unter Zuhilfenahme meiner Schulter für seine andere Hand. Er wirkt steif und ungelenkig und ist unendlich langsam in seinen Bewegungen. Es ist wirklich ein äusserst amüsanter Anblick. Und wäre die Situation nicht so ernst, hätte ich die Tränen, die mir nun vor Lachen in die Augen steigen, nicht zurückhalten können. Denn für den Bruchteil einer Sekunde stelle ich mir überflüssigerweise vor, wie Ingo wohl mit 80 aussehen wird. Mit tiefen Falten, grauen Haaren und einem kleinen Buckel auf seinem Rücken. Wie er mit Hilfe eines Krückstocks auf sein Motorrad steigt. Auf dem er nur die Balance halten kann, weil ein Beiwagen montiert ist, der das Umkippen verhindert. Wie er den Krückstock nach dem Aufsteigen in die Garagenecke stellt und wie jeden Nachmittag seines Rentnerlebens den Motor seiner BMW Jahrgang 1961 mit grossem Geknatter und Gestank startet. Wie er mit einer dicken Abgaswolke die Garage verlässt, um in die nahegelegene Bäckerei zu fahren, wo die Luft geschwängert ist von gemahlenen Kaffeebohnen und Hefe. Wo ihn die hübsche Verkäuferin mit Namen kennt. Bei der er wie jeden Tag schwarzen Kaffee mit Mohnkuchen bestellt. Von der er sich nach dem Verzehr der süssen Sünde mit einer Kombination aus Leidenschaft und Distanziertheit wieder aufs Motorrad helfen lässt. Mit dem Versprechen, morgen wieder zu kommen. Und mit dem Wissen, Freiheit nicht nur zu haben sondern auch geniessen zu können.

Elegantes besteigen des Motorrades zwei Tage nach dem Sturz.

Nationalpark Mount Field

Nationalpark Mount Field

Henty Dunes

 

Wetter:

15 Grad Sonne

 

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