Indien, auf zwei Royal Enfields in die Ausläufer des Himalajas |
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Wir folgen der staubigen Seitengasse in Richtung roter Leuchtschrift. „Hotel Namaskar“ liegt im Main Bazaar, einem heruntergekommenen Stadtviertel in Delhi, von dem wir um diese Uhrzeit noch nicht viel erkennen können. Ein braunhäutiger Angestellter schält sich aus seinem Nachtlager, das sich unter einem Haufen verfilzter Decken hinter dem wackeligen Schreibtisch befindet. Mit oberflächlicher Handbewegung fährt er sich durch die Haare und murmelt uns ein verschlafenes „Namaste“ entgegen. Kurz darauf stehen wir in einem quadratischen Raum mit pinkfarbenem Anstrich und einer vergilbten Glühlampe an der Wand. Vor dem vergitterten Fenster hängen dünne graue Vorhänge, die zwei schmierige Kopfkissen am Ende des Holzbettes berühren. An der rechten Wand des Raumes hängt ein Spiegel, der tiefschwarz angelaufen ist. Ich bücke mich ganz nach unten hinunter, zu der einzigen blanken Stelle, wo ich meine Nase neben meinem Knie im Spiegelbild erkennen kann. Im „En-Suite“ gibt es eine Toilettenschüssel nach westlichem Vorbild mit wackeligem Sitz und einem voll gefüllten Wassereimer daneben. Inder benutzen im Gegensatz zu uns anstelle des Toilettenpapiers lediglich Wasser unter zu Hilfenahme ihrer linken Hand. Unsere Reisefreunde Kathy und Murray stehen grinsend in der Tür. Die beiden haben bei ihrer gestrigen Ankunft eine ähnliche Erfahrung gemacht. Augenzwinkernd drückt mir Murray eine Rolle Toilettenpapier in die Hand. „Hier, ich denke, die braucht ihr. Ich habe gestern den Eimer Wasser ausprobiert und musste dann mit nassem Hintern zur Rezeption runter laufen und Toilettenpapier kaufen. Weiß der Himmel wie die Inder das machen…“
Mit heftigem Gehupe und ruckartigen Bremsbewegungen tauchen wir wenige Minuten später ein in Delhis gefürchteten Stadtverkehr. Es ist Mittagszeit und es herrscht geschäftiges Treiben in der Stadt. In den Kreisverkehren wimmelt nur so von Tuk-Tuks, Rikschas und Taxen. Hier hat der Stärkere Vorfahrt. Verkehrsregeln beachten die wenigsten und viele der roten Ampeln dienen lediglich zur farblichen Verschönerung der Stadt. Es herrscht ein permanentes Hupkonzert und meine Hände sind nach wenigen Sekunden schweißnass. Eine gefühlte Ewigkeit später stoppen wir am Ende einer schmalen Straße und unsere Fahrer wedelt mit seinem Zeigefinger in die dunkle Gasse mit den Worten „Lalli Singh, Lalli Singh“.
Die Begrüßung unter den Männern findet per Handschlag statt, während es für uns Frauen ein paar nette Aufmerksamkeiten gibt. Mit knappen Worten weist er einen Angestellten an, uns Stühle und Chai Tee zu bringen, einen süßen, milchigen Tee, der mit Gewürzen angereichert ist. Der Tag ist ausgefüllt mit jeder Menge Papierarbeit, Erklärungen und Weissagungen über den indischen Verkehr. Einen Großteil der Zeit nehmen die Wartungsarbeiten in Anspruch, die für die anfällige Royal Enfield notwendig sind. Über zwei Stunden hinweg bekommen Ingo und Murray eine praktische Schulung über die Tücken der Royal Enfield. Neben Gaszug und Kupplungskabel wechseln werden die beiden sogar unterwiesen wie der Kondensator und der Gleichrichter ausgebaut werden. Reifen wechseln und Kette spannen laufen nur am Rande. Am Ende der Instruktionen möchte Lalli Singh noch die praktischen Kenntnisse der beiden Jungs testen. Mit zwei Angestellten fahren sie zu einem viel befahrenen Kreisverkehr, wo sie ihre fahrtechnischen Künste unter Beweis stellen müssen. Zum Glück sind die beiden aufmerksame Tuk-Tuk-Beifahrer und haben sich auf der Hinfahrt bereits jede Menge Tricks und Huptechniken abgeschaut. Am frühen Morgen des nächsten Tages wagen wir die Fahrt durch den Stadtkern Delhis. Nun bewegen wir uns in der Verkehrsmasse langsam und gemächlich Richtung Osten. Die 150 km zu unserem heutigen Etappenziel Moradabad scheinen sich endlos zu ziehen. Ich schmunzle über Lalli Singh’s Worte, die er uns bei der Verabschiedung noch ans Herz gelegt hat. „Erwartet nicht, dass Ihr mehr als 200 km pro Tag schafft. Indien ist nicht Europa!“ Wie recht er hat. Schlechte Straßen, tiefe Schlaglöcher und die Vielzahl der Tücken einer jeden kleinen Ortschaft gilt es zu erarbeiten. Menschen, Hunde und Kühe laufen achtlos ohne sich einer Gefahr bewusst zu sein am Straßenrand. Wie auch? Die Straße ist der Menschen Wohnraum. Zelte und einfache Hütten stehen direkt neben dem Asphalt. Hier wohnen sie, kochen, waschen und schlafen. Neben knochigen Kühen bietet die Vielzahl der Händler ihre Ware Preis. Downtown brodelt. Auf den Landstraßen geht der Alltag ganz ähnlich über die Bühne.
Wir sind müde und erschöpft von dem erlebnisreichen Tag, als wir kurz vor der Dämmerung Moradabad erreichen. Wir entscheiden uns für ein Hotel, das von außen zwar nicht sehr viel versprechend aussieht, aber zumindest einen bewachten Parkplatz besitzt. Kathy und ich übernehmen die Begutachtung der Hotelräume. Gleich zu Beginn fragen wir nach dem besten Zimmer, was uns als Deluxe Suite für 1000 Rupien (etwa 17 Euros) pro Nacht vorgestellt wird. Wir finden Gefallen an den Räumlichkeiten und fragen selbstbewusst um eine erneute Preisbestätigung. „Ist der Preis inklusive Steuern?“ fragt Kathy den Hinweisen im Reiseführer Folge leistend. „Ja, natürlich, Madam!“ antwortet der Manager. „Und inklusive der Mopedstellplätze und Heißwasser?!“ kritisch beäugt sie den massiven Mann. „Auch das, kein Problem!“ so der Manager in ruhigem Ton. „Gut“, meint Kathy „dann schreiben Sie uns den Preis bitte auf einen Zettel mit dem Vermerk „inklusive aller Steuern“, denn wir müssen noch unsere Männer um Erlaubnis fragen!“ Ich verbeiße mir ein Grinsen. Der Manager erwidert, dass wir seinem Wort vertrauen können und eine Niederschrift wäre nicht notwendig. Kathy besteht darauf und wenige Augenblicke später halten wir einen Zettel in der Hand, der die besagten 1000 Rupien verspricht mit dem Zusatzwort „Nett“. Auf meine Frage, was das Wort denn neben dem Preis solle, erklärt der gewichtige Manager geduldig, dass „nett“ soviel wie „alles inklusive“ bedeutet. Wenn das mal nicht an kreative Buchhaltung grenzt… Die nächsten zwei Tage reservieren wir für die Erkundung des nördlich liegenden Corbett National Parks, wo wir gehofft hatten, auf Tiger zu treffen. Aber außer einem salutierenden Bediensteten in Militär Uniform am Tor zum Corbett Resort, einer Schildkröte und ein paar Rehen wurden wir leider enttäuscht. Am Ende des National Parks finden wir einen Hindu Tempel, der am Ufer eines Flusses liegt. Wir kaufen als Zeichen von Respekt ein Säckchen mit trockenen, weißen Bohnen, ein bisschen Glitzerkram, der nach Weihnachtsschmuck aussieht und ein gelbes fransiges Deckchen. Eine steile, lange Steintreppe führt uns zum Tempel, der mit unzähligen brennenden Kerzen geschmückt ist. Der Geruch von Weihrauch dringt scharf in unsere Nasen und verstärkt den mystischen Eindruck noch. Ein Priester, der im Inneren des kleinen Tempels auf einem Kissen sitzt, nimmt unsere Gaben mit einem undefinierbaren Gemurmel entgegen. Vor ihm stehen kleine Schälchen mit verschiedenen Ölfarben, die sich die Hindus mit dem Zeigefinger zwischen die Augenbrauen tupfen. Lediglich die Männer bedienen sich der Farbbehälter, Frauen und Kinder werden von ihren Ehemännern und Vätern bedient. Wir steuern die Bergwelt des an Tibet grenzenden Nordens an. Inmitten hoch gelegener Dunstfelder steigen die ausgedehnten Wälder sanft an. Winzige Dörfchen schlummern vor den angrenzenden Bergrücken und die Geschäftigkeit ist lediglich in den lebhaften Einkaufsstraßen zu spüren. Während die Männer den Eindruck erwecken, rauchend und Tee trinkend ihre Zeit zu verbringen finden wir die körperlich hart arbeitenden Frauen auf den Feldern und in den Wäldern.
Nahe dem Ursprung des Flusses Ganges stoßen wir auf die Pilgrims Road, der wir die Bergwelt hinter uns lassend, folgen. Über 60 km lang, schmal und kurvig, ist sie eine Kunst indischer Straßenarbeit. Entlang nackter Felsvorsprünge folgt sie dem Ganges auf einer Achterbahnfahrt durch Berg und Tal. Die tiefe, ungesicherte Schlucht ermöglicht uns während der gesamten Strecke den Blick auf den türkisfarbenen heiligen Strom. Spät am Nachmittag steigen wir hinab von der Pilgrims Road in die Stadt Rishikesh am Ufer des Ganges.
Ingo und Murray sehen den heiligen Ort Rishikesh mit etwas anderen Augen. Während der letzten Tage in der Abgeschiedenheit von Uttaranchal lebten sie abstinent vom abendlichen Bier. Der Grund ist weniger in deren Überzeugung zu finden sondern in der Tatsache, dass Hindus offiziell keinen zu sich nehmen. Die Hoffnung der beiden Männer liegt nun bei dem Angestellten an der Rezeption des Hotels. Dieser verspricht Ihnen den goldenen Tropfen, nur würde die Beschaffung etwas Zeit in Anspruch nehmen, da er einen Fahrer in den 14 km entfernten Nachbarort schicken müsse. Ingo und Murray bestellen in vereinter Vorfreude vier Flaschen „Kingfisher“. In Indien allerdings geschieht nichts zügig und sofort. Nach mehreren Nachfragen bei dem Angestellten, der immer wieder versichert „Beer come soon, Beer come soon“ klopft es nach 6 Stunden um 21:50 Uhr an unserer Hotelzimmertür. Vier große Flaschen, sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt wechseln den Besitzer und der Bedienstete ist um ein üppiges Taschengeld reicher.
Lalli Singh’s Werkstatt finden wir dank GPS ohne größere Umwege und er weist einen seiner Mitarbeiter an, uns zur Begrüßung Kaffee zu bringen. Der Angestellte folgt der Anordnung ohne Verzögerung. Er nimmt ein paar benutzte Kaffeetassen aus dem Regal und läuft zu dem Wassereimer, in dem ein Kollege gerade einen Zylinderkopf für eines der Motorräder abwäscht. Die Tassen kurz durch die dunkle Brühe gezogen, wirft er einen prüfenden Blick auf sein Werk, wobei sich sein Doppelkinn mehrfach faltet. Sekunden später fließt bereits der dampfende Kaffee in die Tassen. Wir trinken das Luxusgetränk mit der Verbissenheit derjenigen, die das Abenteuer Indiens gerade hinter sich gelassen haben. Und was soll ich sagen, er schmeckt ausgezeichnet.
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